„Lebensraum“ unter Nazi-Verdacht

©2014 Fabian Mauruschat

Wörter raus aus dem Gefängnis der Ideologie!

Die Verwendung des Wortes „Lebensraum“ lässt mich innerlich immer leicht zusammenzucken. Lebensraum, das war doch eines der Lieblingswörter der Nazis. Der Zweite Weltkrieg hatte vor allem das Ziel, „Lebensraum im Osten“ freizumachen – indem man die dortige Bevölkerung auslöscht. Es hat sich – nicht nur bei mir – das Gefühl eingestellt, dieses Wort nie wieder benutzen zu wollen. Aber vielleicht ist Lebensraum doch gar nicht so nah dran an Wörtern wie „Eintopfsonntag“ oder „gesundes Volksempfinden“.

Das Wort Lebensraum oder Biotop – es ist nicht ganz dasselbe – kommt aus der Biologie. Und bezeichnet, ganz einfach und relativ harmlos, den Verbreitungsraum einer Spezies. Darüber hinaus auch die Art und Weise, wie ein bestimmter Lebensraum von mehreren Spezies bewohnt wird. Die gegenseitige Abhängigkeit voneinander steckt also eigentlich mit drin. Und diese Aspekte, nämlich Diversität und Miteinander, sollten auch für den Homo Sapiens gelten. Doch da scheint es ein Missverständnis zu geben.

Denn die Entlehnung dieses schönen Wortes aus der Biologie war eine politische Taktik der Nazis, die noch heute ihre Folgen hat. Gerne hat die nazistische Propaganda Begriffe aus dem Naturreich verwendet und auf die eigene Politik gemünzt. Diese Argumentation sollte den Anschein einer Natürlichkeit erwecken. Doch die Anwendung auf die Welt der Politik ist ein hinkender Vergleich. Es gibt in der Biologie immer genug Lebensraum, wenn das natürliche Gleichgewicht stimmt. Trotzdem erfindet der Nazismus einen „Mangel an Lebensraum“ einer Nation und schließt daraus, dass sie nicht „artgerecht“ leben kann. In kruder Kausalität folgt dann daraus, dass sie sich einen neuen Lebensraum nehmen muss. Der aber in der Realität natürlich schon von anderen Menschen bevölkert ist. Und wenn die sich nicht dagegen wehren können, dann gilt eben das Recht des Stärkeren. In dieser Adaption des Darwinismus erklären die Nazis Krieg zu einem ganz natürlichen Verhalten. Dass Nationen, Völker und Kriege ebenso wenig naturgegeben sind wie Arbeitszeitausgleich oder Wagner-Opern fällt in der Rhetorik nicht weiter auf. Angesichts dieses Hintergrundes wird klar, wie verfänglich der unreflektierte Umgang mit manchen Wörtern ist. Genau das sollte ein Anreiz sein, sich über die die Entwertung von Begriffen hinwegzusetzen und sich nicht wegzuducken.

Wörter zurücknehmen

Wenn wir uns Gedanken über unsere Lebensräume, um unsere Quartiere und Gemeinden, machen schwingt mehr IKEA als Deutsches Reich mit. „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ war einer der erfolgreichsten Werbesprüche des Möbelkonzerns. Dass IKEA-Gründer Ingvar Kamprad Funktionär der schwedischen Nazipartei Svensk Socialistisk Samling (SSS) war, hat damit wahrscheinlich nichts zu tun.

Der schwedische Super-Slogan trifft aber einen Kern unserer Gefühlswelt. Denn obwohl wir in der deutschen Sprache Wohnen und Leben oft für das gleiche verwenden, besteht ein grundlegender Unterschied in der Wortwahl. Wohnen ist Lifestyle, Leben dagegen existenziell. Es ist wohl eines der wenigen Wörter, die immer positiv besetzt sein werden. Und Raum ist ebenso existenziell, als Grundlage unserer geistigen und körperlichen Verortung. In Sprachräumen, Wohnräumen, und der Raum-Zeit selbst. Es spricht Bände, dass die Nazis mit dem Wort Lebens-Raum ausgerechnet die Kombination dieser beiden Wörter für sich vereinnahmen wollten. Wenn wir Lebensraum heute den kalten Klauen der Nazi-Ideologie überlassen, geben wir einen Kampf auf, der eigentlich seit 1945 beendet sein sollte.

Vom Biotop zur Utopie

Also werfen wir einen Blick auf den Lebensraum. Wenn wir ihn in der Mehrzahl „Lebensräume“ verwenden, klingt doch gleich eine positive Utopie an. Und Lebensräume beschreibt auch die biologische Realität gleich viel besser, in der kein Lebensraum isoliert da steht. In der Natur besteht jedes Biotop aus zahllosen sich überlappenden Lebensräumen. Tiere, Pflanzen, Pilze leben zusammen, voneinander, aber auch miteinander. Lebten in einem Lebensraum nur Bären, würden sie aussterben. Leben und Überleben geht nur mit Diversität. Das können wir nutzen, um uns unsere Lebensräume wieder anzueignen. Denn wenn wir wirklich leben wollen, wo wir wohnen, müssen wir unsere Quartiere gestalten – für uns selbst und andere, gemeinschaftlich für ein gutes Leben. Das geht nur, wenn wir uns in unserem Lebensraum Verbündete machen.

„Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt“ hat der Berliner Zeichner Heinrich Zille gesagt. Also können wir nicht alles hinnehmen wie es ist. Wir beginnen Verantwortung für unsere Räume zu übernehmen. Indem wir uns an ihrer Gestaltung beteiligen, machen wir Lebensraum zu unserer eigenen Sache.

Genau so wie Wörter können wir Räume schützen und neu erfinden, aus alten Kontexten befreien und positiv besetzen.

Ein Gastbeitrag von Fabian W.W. Mauruschat
©2021 Chris Strauss

Fabian W. W. Mauruschat kam über das gesprochene zum geschriebenen Wort: Nach ersten Erfahrungen und Volontariat im journalistischen Radiobereich wechselte der studierte Historiker aus Wuppertal zu gedruckten und Online-Medien. Heute arbeitet er als freier Journalist, Autor und Online-Redakteur. 2021 erschien sein Buch „Eine kleine Geschichte der Videogames“, 2020 die Graphic Novel „Engels – Unternehmer und Revolutionär“, deren Szenario er geschrieben hat. Fabian Mauruschat leitet den eigenen Kulturblog fischpott.com und war schon für viele unterschiedliche Medien wie Spiegel Online, coolibri, Geek!, talwärts, Wuppertaler Rundschau, Die Stadtzeitung, den Spielevertrieb Asmodee und Verlage wie Ulisses Spiele und Edition 52 tätig. Seine Erfahrung teilt er gerne mit jungen Menschen: So gründete er zusammen mit Chris erfolgreich die „Zeitwerkstatt Wuppertal“ – ein Projekt zu Lokaljournalismus und Lokalgeschichte mit Jugendlichen. Mit der Bergischen Universität, dem St.Anna-Gymnasium und der Pina-Bausch-Gesamtschule begleitete Fabian das Projekt „Spiel versus Leben“ und ist jetzt auch als Dozent an der Junior Uni Wuppertal tätig. mehr Infos zu Fabian